Minnesota begrüsst uns mit einem perfekten Railtrail. Autofrei, durchgehend asphaltiert oder sehr gut wassergebunden - kein Vergleich zur Schüttelpartie im Westen Kanadas. Dabei wartet er mit den gleichen charakteristisch unmerklichen Steigungen auf, ausser, dass die Hügel hier eher in dutzenden statt in hunderten Metern zu messen sind. Mit Seen und Schilfgürteln, Wäldchen und Wiesen ist die Landschaft abwechslungsreich - ein Spiegel der vielfältigen Wirtschaft des Staates, wo von Allem ein wenig gemacht wird.
Einen Tag fahren wir dem Sparta-Elroy Railtrail entlang, und damit dort, wo die Geschichte der Rails-to-Trails Initiative in den USA ihren Anfang nahm. 1967 eröffnet, war dieser Trail eine historische Umnutzung die vielerorts Beachtung - und wie einst die Eisenbahn neuen Schwung für die Region versprach. Die Strecke führt durch malerische Wälder, hohle Gassen im Sandstein und drei eindrückliche Tunnels an Schmucken kleinen Dörfern vorbei. Erstaunlich, wie gut die vor 150 Jahren von Hand gegrabenen Bauten erhalten sind! Heutzutage ist der Weg Teil eines deutlich grösseren State Trail Netzwerks, welches sich wie einst die Eisenbahn mit vielen Verzweigungen zwischen Chicago und Saint Paul erstreckt.
Unser erster Versuch, den Lake Michigan zu überqueren, schlägt fehl. Den Tag durch ist schon starker Regen angesagt, weshalb wir unsere Fahrzeit vorverschieben und statt gegen Abend schon morgens Manitowoc erreichen. Gerade rechtzeitig, um vor dem Wolkenbruch zuflucht in einem Park mit überdachten Tischen und Toilette zu finden. In dieser Hinsicht ist der Service Public in den Staaten und Kanada zu unserem Erstaunen ausgezeichnet. In jeder Gemeinde gibts öffentliche Toiletten, meist noch mit einem gepflegten Unterstand, oft sogar mit Strom - was wir bei den weniger werdenden Sonnenstunden zu schätzen wissen. Der riesige ‘kleine’ grosse See wirkt bald schon fast wie ein Meer: Wellen branden an, das Wasser ist aufgewühlt, uferlos weit erstreckt er sich in die graue Wolkenwand. Diese Nacht bleibt die Fähre vor Anker, an der Bürotür klebt nur ein Zettel mit Entschuldigung, als wir um Mitternacht am Anleger aufschlagen. Wir stellen kurzerhand unser Zelt auf, mal schauen, wies Morgen weitergeht.
Vom Wahlkampf bekommen wir in diesen ansich heiss umkämpften Swing States sogar noch weniger mit als um den Super-Tuesday in Kalifornien herum. Zwar finden zeitgleich zahlreiche ‘Rallies’ - Versammlungen der jeweiligen Anhänger, Reden und pompöse Auftritte statt, jedoch hauptsächlich in den grossen Städten die wir meiden. Auf dem Land sieht man nur reihenweise Trump-Schilder. Make America Great Again, Keep America Great oder, überraschend ehrlich für einen Kandidaten, der in einem durchschnittlichen Interview vierzig Mal verifizierbar lügt: “Proudly voting for the convicted felon” - ich wähle stolz den verurteilten Verbrecher.. Dagegen haben Bekundungen für die Demokraten - “Back the blue!” - oder gar Harris/Walz Seltenheitswert. Ob die schweigende Mehrheit, die Hälfte der nicht beschilderten Häuser überwiegend Harris wählt? Oder holt sie die Stimmen, die ihre Chancen intakt wirken lassen, vor allem in den Städten?
Statt aktueller Politik bekommen wir von der Industriegeschichte einiges mit. Von der zentralen Rolle der Eisenbahn, die hier im Osten mal ziemlich gut ausgebaut war - zuerst um Holz, später dann Agrarprodukte an die Seen zu bringen. Von der Geschichte der Manitowoc-Fähre, auf deren letztem traditionsreichen Schiff wir übersetzen, und wo zu Hochzeiten 14 Eisbrecher ganze Züge am Engpass Chicago vorbeigeschippert haben. Und von den Krisen der prägenden Schwerindustrie: die grossen Autobauer, Stahl- und Lebensmittelfabriken waren lange Zeit die Lebensader von Städten wie Detroit, Chicago und Milwaukee. Mit ihrem Niedergang durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen in billigere Entwicklungsländer verloren einige dieser Städte markant an Bedeutung und bis zu einem Drittel ihrer Bevölkerung. Armut hält Einzug, die Kriminalität steigt, die traditionell mächtigen Gewerkschaften werden geschwächt - und hier wird sie wieder sichtbar, die Verbindung zur aktuellen Entwicklung, wo die Region zunehmend als Swing States gehandelt wird.
Aber nun genug der Politik, fast so häufig wie MAGA-Schilder sehen wir Rehe, Muskrats, Eichhörnchen und andere Tiere. Zweimal zieht sich eine Wasserschlange schnell zurück, und prächtige Kardinäle blitzen feuerrot im Dickicht auf. Des Nachts heulen zu unserem Erstaunen immer noch Koyoten, und als wir am Wasser übernachten werden wir mehrfach von einem lauten Platsch geweckt. Ein Biber, der mit seiner Keule aufs Wasser schlägt? Ein grosser Fisch auf Falterjagd?
Im Hin- und Her des Grenzgebiets erreichen wir bald die Wohl eindrücklichste Border Station zwischen Kanada und den USA: Niagara Falls! Die Urgewalt Wasser in all ihrer Macht, kein Wunder wurde sie hier zum ersten Mal zur Erzeugung von Elektrizität für eine entfernte Stadt - Buffalo - genutzt. Dem Erfindungsgeist des Migranten Nikola Tesla haben wir die Übertragung per Wechselspannung zu verdanken, hier 1895 zum ersten Mal demonstriert und danach in einer unaufhaltbaren Welle weltweit verbreitet.
Über die Brücke fahren wir in New York ein, und erreichen mit dem Empire State den letzten Bundesstaat unserer Reise. Auf dem gleichnamigen Trail, entlang dem Erie Kanal, könnten wir uns fast zurück in Frankreich wähnen. Die Schleusen sind etwas anders gebaut, die Brücken im ganzen anhebbar mit Fussgänger-Passage sowohl oben als auch unten, die Dörfer von der Einwanderung geprägt - das sind schon etwa die Unterschiede, die auf den ersten Blick auffallen. Und dass man wohl - wie einst ein norwegischer Religionsflüchtling - im Winter auf Schlittschuhen tagelang den Kanal bereisen kann. Ansonsten sind wir in der gleichen Klimazone wie zu Beginn unserer Reise, die Landschaft ist ähnlich, der Kanal hüben wie drüben wirtschaftlicher Entwicklungsmotor. 1825 gebaut, hat die technische Meisterleistung den Status New Yorks als ‘Empire State’ begründet und mit günstigem Transport aus dem mittleren Westen das Fundament für die Bedeutung der Stadt als wichtigstem Hafen der Ostküste gebildet. Erst seit dem Aufkommen stählerner Dampfschiffe, die auch die weniger geschützten Flüsse befahren konnten, nahm die wirtschaftliche Bedeutung des Kanals langsam ab und heute dient er vor allem der Erholung auf und am Wasser.
Wir geniessen ein paar fast autofreie Fahrtage, und folgen der Wasserroute einige hundert Kilometer nach Osten bis zu den Adirondack Mountains. Unsere letzten Tage in den USA sind wir hier in der hügeligen Seenlandschaft zur Abwechslung per Kanu unterwegs. Herbststimmung. Loons. Stille und Sternenhimmel. Eine Insel ganz für uns allein..