Schon am ersten Tag lernen wir Grandpa kennen, einen freundlichen älteren Herrn der fragt, ob er ein Bild von uns auf seine Website stellen darf. Ein spürbar gebildeter Pensionär und Hobbyfotograf. In Grobina werden wir spontan auf den lokalen Wikinger-Camping eingeladen, am Wochenende gäbe es ein ganzes Festival zum Thema. Wir haben aber vor noch etwas weiter zu ziehen, und geniessen daher nur den schönen Park - mit sauberen Toiletten, unlesbaren Infos und Trinkwasser zum Kochen. Die Menschen scheinen wieder viel offener, neugierig. Das gilt auch für die Touristen, wie wir später noch erleben.
Staubstrassen. Entweder gut gemachter Kieselbelag oder Autobahn. Nach 20 Kilometer Holperpiste entscheiden wir uns für die Direktverbindung Liepaja-Riga, anstrengend aber schnell. Viele Lastwagen grüssen, hupen, nehmen Rücksicht. Andere überholen von der Gegenfahrbahn, kommen mit atemraubendem Tempo entgegen und drängen uns vom Asphalt. Wir sind froh, wenn wir wieder bessere Routen finden. Eines unserer Ziele: Skrunda-1. Sowjetische Geheimstadt, gebaut als Radioüberwachungs-Station gegen Westen. Seit dem Erfolg der Baltischen Kette: eine lettische Geisterstadt, wo immer noch russische Propaganda an den Wänden hängt. Als wir ankommen: Militärgelände. Sperrgebiet, mit zwei freundlichen Soldaten als Wache. Wir haben Pech, der Tourismusbetrieb wurde vor zwei Monaten eingestellt.
Anderthalb Tage im Rigaer Zoo. Lustige Begegnungen und erstaunte Gespräche, selbstverständliche Hilfsbereitschaft und kleine, aufmerksame Geschenke. Trotz manchmal seltsamem Beobachtet-Werden ist der Aufenthalt im Grosstadt-Camping eine erfreuliche Abwechslung zu den üblichen romantischen Sonnenuntergängen. Beim Besuch der gängigen Touristenziele zeigt sich uns eine hübsche ältere Stadt. Speziell empfohlen wird uns eine Mittelalter-Taverne, die tatsächlich sehr schön eingerichtet ist, mit passend gekleidetem Personal und Menükarte. Ebenso besonders: der Markt in vier alten Zeppelinhangars: Dufthallen, Stinktempel! An jeder Ecke eine neue Überflutung. Sinnesfülle. Heidel- und Erdbeeren gibt es fast umsonst, und wir probieren Birkensaft und (echt leckeres) Schwarzbrot.
Nach dem kurzen Unterbruch: wieder eine Strasse, Lastwagen, Autos und wir. Zwar wird viel gegrüsst, Daumen zeigen hoch (wollen die echt alle bei uns mitfahren?) und aus einem roten Wuschelkopf blitzt ein lachendes Gesicht – aber dennoch anstrengend. Ich ertappe mich dabei, Kilometer und Minuten zu zählen. Hoffentlich wird Estland wieder angenehmer für uns. Und Finnland: wir freuen uns auf nordische Strassen! Dafür gibts am Abend wieder ein Geschenk: Sand massieren bis Pudding entsteht. Feuerwarmes Knirschen, dass sich an die Fusssohlen schmiegt Unsere eigene Wellenrippelinsel. Strandidylle für uns allein mit Sonnenuntergang um lettisch Elf.
Wunderbar asphaltierte, und trotzdem verkehrsarme Abschnitte der EV 13 - Willkommen in Estland. Die Föhrenwälder mit Birkenflecken bleiben ähnlich, lange Gassen entlang des Meers, meist etwas weiter landeinwärts. Besondere Grossstein-Häuser und bunte Holzkirchen, freundlich Grüssende und Daumenhoch-Menschen. Eine wärmende Begegnung mit Raimund gleich nach der Grenze: im Weltkrieg geboren unter sicher nicht einfachen Bedingungen, offen und herzlich interessiert, wirkt er mitten im Leben. Mit 75 Jahren per Rad unterwegs von Deutschland nach Karelien und wieder zurück. Alle Achtung!
Kurze Zeit später noch eine Begegnung mit deutschen Radlern: Petra und Roland sind mit Ebikes (ohne solar) unterwegs, und machen unserem Liegeflitzer fast schon Konkurrenz…
Am Abend fragen wir die Bewohner eines wundervollen Hauses, ob wir für eine Nacht unser Zelt auf die Wiese stellen dürfen. Stattdessen werden wir in ein kleines Hüttendorf am Fluss gewiesen, eingeladen Feuer zu machen und die Sauna zu nutzen und können im letzten Licht ein Bad im warmen Wasser geniessen. Kaum richtig angekommen, kommt Villu Vaargas noch einmal angeradelt und bringt uns eine Flasche selbstgebrannten, grünen Whisky. Ein Geschenk der Frau – welch Gastfreundschaft. Danke.
Da am nächsten Abend die Sauna eingefeuert werden soll, entscheiden wir uns noch einen Tag zu bleiben und finden nach dem Einkaufen – ein kleines Gastgeschenk brauchen wir auf jeden Fall – einen Zettel auf dem Rad: Raimund war hier. Wer weiss, vielleicht sehen wir uns bald wieder? In umständlichen Gesprächen erfahren wir etwas mehr über Estland und lernen auch wie der Whisky richtig angewandt wird: zu gleichen Teilen zum Trinken und zum Einreiben gegen die Mücken. Und auch wenn es mit der Sauna schlussendlich doch nicht klappt, sind wir dankbar, dass wir einen Tag Ruhe an so einem schönen Ort geniessen durften.
Die Ankunft in Tallinn ist eine Geschichte für sich. Das blaue Kettwiesel bricht unter dem Gewicht des Anhängers, und notdürftig mit Seilwerk geflickt bangen wir um jeden Kilometer bis Helsinki. Mittlerweile ist uns klar dass der Hänger und wohl auch die Räder definitiv zu leicht gebaut sind für unsere Belastung – mal sehen wie das weitergeht. Am Hafen kommt ein Mann auf uns zu: „Where are you from?“ „Switzerland“ „I know you from the Internet. You need any welding possibilities? Just come in.“ Wir sind verdutzt über unsere scheinbare Berühmtheit, umso mehr da er doch noch nichtmal gesehen haben konnte, dass etwas an unseren Rädern gebrochen war.
Später stellt sich heraus, dass es Andres Mesner vom Tallinn Creative Hub ist, dem wir zufällig begegnen. Ich hatte ihn von Klaipeda aus kontaktiert aber keine Antwort bekommen, und drum erwartet erst in Helsinki wieder etwas reparieren zu können. Aber siehe da: wenn nötig kommt Hilfe auf unerwarteten Wegen, und das Rad sieht nach einer Weile schon stabiler aus als neu. Herzlichen Dank dafür, wir werden versuchen uns auch selbst an dein Motto zu halten: „Do good, receive good.“ Und übrigens: wir wurden schlussendlich als Auto gebucht, mussten aber nur den halben Preis gegenüber dem Onlineverkauf zahlen. Warum auch immer. Für 36.- Euro von Tallinn nach Helsinki, da kann man nichts sagen (:
In Tallinn überrascht uns dann auch ein grossartiges Hostel an einer viel zu teuer scheinenden Lage. Wir erhalten gute Tipps, um die Stadt mit mittelalterlichem Flair zu erkunden, auch die Independent- und Kulturszene etwas zu entdecken und das Beste aus den paar Stunden rauszuholen, die uns hier noch bleiben. Die Überfahrt mit der frühmorgendlichen Fähre ist völlig easy, wir bekommen einen Platz mit Pole Position und düsen schon bald über finnische Radwege – auf zum Helsinki Hacklab. Hier erwartet uns die zweite Begegnung, die den prägendsten Eindruck der nordischen Hauptstädte hinterlässt: Überraschende Hilfe und unerwartete Unterstützung. Markus und Teppo empfangen uns sehr freundlich, wir erfahren allerhand Nützliches für unsere Weiterreise und hören abenteuerliche Geschichten aus den Petersburger Laboratorien.. und „Let‘s get the work done!“: Markus bringt den Anhänger mit fein säuberlichen TIG-Nähten auf Vordermann, meine Brutzelei aus Tallinn wird verschönert und wir sind bald startklar zur Weiterreise. Jetzt nur noch ein paar Brownies backen (wenn Markus wüsste… <3Thx!), (un-)orthodoxe Kirchen besuchen und in der hiesigen DIY-Bike-Community vorbeischauen..